Aktuelle Zahlen für 2022
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Januar 2022
Oberlandesgericht Bamberg, Beschluss vom 22.11.2021
- 2 UF 220/20 -
Schulverweigerung begründet nicht zwingend Kindeswohlgefährdung
Bestmögliche Förderung des Kindes und Einhaltung der Schulpflicht kein Grund für gerichtliches Einschreiten
Weigern sich die Eltern ihr Kind in die Schule zu schicken, so begründet dies nicht zwingend eine Kindeswohlgefährdung. Die bestmögliche Förderung des Kindes sowie die Einhaltung der Schulpflicht ist kein Grund für ein gerichtliches Eingreifen gemäß § 1666 BGB. Dies hat das Oberlandesgericht Bamberg entschieden.
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Weil die in Bayern wohnhaften Eltern sich weigerten ab dem Jahr 2017 ihr zu dem Zeitpunkt etwa 8 Jahre altes schulpflichtiges Kind in die Schule zu schicken, schaltete das Jugendamt das zuständige Familiengericht ein. Dies sah in der Schulverweigerung eine Kindeswohlgefährdung und machte den Eltern daher im Jahr 2020 Auflagen, die dafür sorgen sollten, dass das Kind wieder zur Schule geht. Dagegen richtete sich die Beschwerde der Eltern. Sie führten an, dass das Kind Heimunterricht in den Grundlagenfächern genieße. Zudem verfüge es über einen Freundeskreis und sei in einem Sportverein und der Jugendfeuerwehr tätig. Von einer Kindeswohlgefährdung sei daher nicht auszugehen.
Keine automatische Kindeswohlgefährdung bei Schulverweigerung
Das Oberlandesgericht Bamberg entschied zu Gunsten der Eltern. Zwar könne es einen Missbrauch der elterlichen Sorge darstellen, der das Wohl des Kindes nachhaltig gefährde und Maßnahmen des Familiengerichts nach § 1666 BGB rechtfertige, wenn Eltern sich beharrlich weigern, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Eine Schulverweigerung begründe aber nicht automatisch eine Kindeswohlgefährdung. Es komme vielmehr auf den Einzelfall an. Durch die Schulverweigerung müsse eine gegenwärtige oder unmittelbar bevorstehende, erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes vorliegen. Dies könne hier, insbesondere nach Anhörung des nunmehr 12-jährigen Kindes, nicht festgestellt werden.
Keine Gefährdung der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes
Das Kind sei nach Eindruck des Oberlandesgerichts nicht sozial isoliert und zeige kein auffälliges Verhalten. Die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes sei im Hinblick auf eine spätere selbstbestimmte Lebensführung als Mitglied der Gesellschaft durch den Heimunterricht und den sozialen Kontakten in einem Umfang gewährleistet, welche ein gerichtliches Einschreiten nach § 1666 BGB nicht zulasse.
Bestmögliche Förderung des Kindes und Einhaltung der Schulpflicht kein Grund für gerichtliches Einschreiten
Nach Ansicht des Oberlandesgericht könne ein gerichtliches Einschreiten gemäß § 1666 BGB nicht damit begründet werden, dass das Kind bestmöglich gefördert werden soll. Auch für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen sei nicht Aufgabe des Familiengerichts. Vielmehr seien dafür die Schulbehörden zuständig.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 21.01.2022
Quelle: Oberlandesgericht Bamberg, ra-online (vt/rb)
Februar 2022
Amtsgericht Bad Iburg, Beschluss vom 14.01.2022
- 5 F 458/21 EASO -
Bei Streit zwischen Vater und Mutter über Corona-Impfung des Kindes wird das Sorgerecht auf den Elternteil, der den Empfehlungen der STIKO folgt, übertragen
Kindeswille ist zu beachten, wenn das Kind sich eine eigene Meinung bilden kann
Können sich Eltern nicht darüber einigen, ob ihre Kinder mit einem mRNA-Impfstoff gegen Corona geimpft werden sollen, so ist die Entscheidung auf denjenigen zu übertragen, der die Impfung befürwortet, wenn es eine entsprechende Empfehlung der Ständigen Impfkommission gibt. Dies hat jetzt das Familiengericht Bad Iburg entschieden. Ist ein Kind aufgrund des massiven, auf Angsterzeugung und Einschüchterung ausgerichteten Verhaltens eines Elternteils nicht imstande, sich eine eigene Meinung über den Nutzen und die Risiken der Corona-Schutzimpfung zu bilden, steht dessen Wille der Entscheidung, die Befugnis für die Entscheidung über die Impfung auf den die Impfung befürwortenden Elternteil zu übertragen, nicht entgegen. Dies hat jetzt das Familiengericht Bad Iburg entschieden.
Die geschiedenen Eheleute stritten darüber, ob die gemeinsamen 14 und 12 Jahre alten Kinder gegen Corona geimpft werden sollten. Nachdem sich die Eltern zunächst vergleichsweise dahingehend geeinigt hatten, sich diesbezüglich an die Empfehlung der behandelnden Kinderärztin zu halten, hatte sich die Mutter später gegen diese Empfehlung gestellt und lehnte nunmehr eine Impfung der Kinder generell ab.
Familiengericht überträgt die Impfentscheidung auf den Vater
Das Familiengericht hat die Entscheidung über die Zustimmung zu einer Schutzimpfung gegen das Corona-Virus auf den Vater übertragen, mit der Maßgabe, dass die Impfung mit dem mRNA-Impfstoff Comirnaty (BioNTech/Pfizer) zu erfolgen hat.
Gemäß § 1628 Satz 1 BGB kann das Familiengericht, wenn sich Eltern bei gemeinsamer elterlicher Sorge in einer Angelegenheit, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist, nicht einigen können, auf Antrag eines Elternteils die Entscheidung einem Elternteil alleine übertragen.
Entscheidung ist dem Elternteil zu übertragen, der der Empfehlung der STIKO folgt
Bei der Übertragung der Entscheidungsbefugnis über Schutzimpfungen könne, so das Familiengericht, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darauf abgestellt werden, dass die Entscheidungsbefugnis grundsätzlich demjenigen Elternteil
zu übertragen sei, der die Impfung des Kindes entsprechend den Empfehlungen der Ständigen Kommission beim Robert-Koch-Institut befürwortet, soweit bei dem Kind keine besonderen Impfungsrisiken vorliegen. Diese Empfehlung liege für die beiden 12 und 14 Jahre alten Kinder vor. Die Ständige Impfkommission empfehle eine Corona-Impfung mit dem mRNA-Impfstoff Comirnaty für Kinder und Jugendliche im Alter von 12-17 Jahren, unabhängig davon ob sie aufgrund von Vorerkrankungen ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf der Covid-19-Erkrankung haben.
Kindeswille ist zu beachten, wenn das Kind sich einen eigenen Willen bilden kann
Zusätzlich sei nach § 1697 a BGB zwar auch der Kindeswille zu beachten. Dies gelte allerdings nur dann, wenn das Kind sich im Hinblick auf sein Alter und seine Entwicklung auch eine eigenständige Meinung zum Gegenstand des Sorgerechts bilden kann. Ist ein Kind aufgrund des massiven, auf Angst und Einschüchterung abzielenden Verhaltens eines Elternteils nicht imstande, sich eine eigene Meinung über den Nutzen und die Risiken der Corona-Impfung zu bilden, steht dessen Wille einer Entscheidung, die Befugnis für die Entscheidung über die Impfung auf den die Impfung befürwortenden Elternteil zu übertragen, nicht entgegen.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 04.02.2022
Quelle: Familiengericht Bad Iburg, ra-online (pm/pt)
März 2022
Oberlandesgericht Düsseldorf, Beschluss vom 20.07.2021
- 1 UF 74/21
Kindesmutter kann Lebensgefährtin des Kindesvaters auf Unterlassung der Veröffentlichung von Bildern ihrer Kinder in Anspruch nehmen
Übertragung der Entscheidungsbefugnis auf Kindesmutter entspricht Kindeswohl
Veröffentlicht die Lebensgefährtin des Kindesvaters ohne Zustimmung der Kindesmutter Bilder der minderjährigen Kinder in sozialen Netzwerken, so kann der Kindesmutter die alleinige Entscheidungsbefugnis zur Geltendmachung der Unterlassungsansprüche gemäß § 1628 BGB übertragen werden. Dies hat das Oberlandesgericht Düsseldorf entschieden.
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Eltern zweier Kinder im Alter von 11 Jahren lebten getrennt. Die Lebensgefährtin des Kindesvaters nahm mit dessen Zustimmung von den Kindern Fotos auf und veröffentlichte diese Anfang des Jahres 2021 zu Werbezwecken für ihr Friseursalon auf ihren Facebook-Account. Die Kindesmutter, deren Einwilligung nicht eingeholt wurde, war damit nicht einverstanden. Sie beantragte daher beim Amtsgericht Düsseldorf ihr die alleinige Befugnis zur Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen gegen die Lebensgefährtin des Kindesvaters zu übertragen. Das Amtsgericht folgte dem Antrag. Dagegen richtete sich die Beschwerde des Kindesvaters. Er führte an, dass die Kindesmutter in der Vergangenheit selber Bilder der Kinder ohne seine Zustimmung in soziale Netzwerke veröffentlicht habe.
Übertragung der Entscheidungsbefugnis auf Kindesmutter
Das Oberlandesgericht Düsseldorf bestätigte die Entscheidung des Amtsgerichts. Der Kindesmutter sei gemäß § 1628 BGB die Entscheidung über die Auseinandersetzung mit der Lebensgefährtin des Kindesvaters wegen der Veröffentlichung der Bilder im Internet zu übertragen.
Kindesmutter bietet bessere Gewähr zur Berücksichtigung des Kindeswohls
Den Ausschlag für die Kindesmutter gebe der Umstand, so das Oberlandesgericht, dass diese im Gegensatz zum Kindesvater die Gewähr für eine Verhinderung der weiteren Verbreitung von Fotos durch die Lebensgefährtin und damit für eine entsprechende Wahrnehmung der Kindesbelange biete. Der Kindesvater habe nicht beachtet, dass auch die Kindesmutter gemäß § 22 KUG und Art. 6 Abs. 1 UAbs 1 a) DSGVO in die Veröffentlichung der Fotos habe zustimmen müssen.
Frühere Veröffentlichung von Fotos durch Kindesmutter unerheblich
Für unerheblich hielt das Oberlandesgericht den Einwand des Kindesvaters, die Kindesmutter habe in der Vergangenheit ohne seine Zustimmung Fotos der Kinder in sozialen Netzwerken veröffentlicht. Denn es komme in Verfahren auf Übertragung der Entscheidungsbefugnis allein auf die konkrete Angelegenheit an. Es spiele daher keine Rolle, ob ein Elternteil in einem anderen Fall eine unrechtmäßige Verbreitung eines Fotos des Kindes veranlasst oder zugelassen hat.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 14.02.2022
Quelle: Oberlandesgericht Düsseldorf, ra-online (vt/rb)
April 2022
Saarländisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 18.02.2022
- 6 UF 5/22 -
Sorgerechtsentscheidung setzt Anhörung des Kindes voraus
Pflicht zur Kindesanhörung auch im Eilverfahren und unabhängig vom Alter des Kindes
Eine Sorgerechtsentscheidung darf gemäß § 159 Abs. 1 FamFG ohne vorheriger Anhörung des Kindes nicht ergehen. Die Pflicht zur Kindesanhörung besteht auch in einem Eilverfahren und unabhängig vom Alter des Kindes. Dies hat das Oberlandesgericht des Saarlandes entschieden.
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Dezember 2021 untersagte das Amtsgericht Homburg in einem Eilverfahren einer Kindesmutter den Umgang ihres Kindes mit ihrem Lebensgefährten. Zudem sollte sich der Lebensgefährte nicht in der Wohnung der Kindesmutter aufhalten, wenn diese Umgang mit dem Kind hat. Das Gericht begründete die Anordnungen mit einer Kindeswohlgefährdung. Jedoch hatte es das sechsjährige Kind nicht angehört. Gegen die Entscheidung richtete sich die Beschwerde der Kindesmutter.
Schwerwiegender Verfahrensmangel wegen fehlender Kindesanhörung
Das Oberlandesgericht des Saarlandes entschied zu Gunsten der Kindesmutter. Es liege seiner Ansicht nach wegen der fehlenden Kindesanhörung ein schwerwiegender Verfahrensmangel vor. Die Entscheidung des Amtsgerichts wurde daher aufgehoben und zur Neuentscheidung an das Amtsgericht zurückgewiesen.
Pflicht zur Kindesanhörung auch im Eilverfahren und unabhängig vom Alter des Kindes
Das Familiengericht müsse gemäß § 159 Abs. 1 FamFG das Kind persönlich anhören, so das Oberlandesgericht. Diese Verpflichtung gelte auch im einstweiligen Anordnungsverfahren und unabhängig vom Alter des Kindes. Es entspreche ohnehin höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass Kinder in einem ihre Person betreffenden Verfahren jedenfalls ab einem Alter von etwa drei Jahren persönlich anzuhören sind. Gründe, die ein Absehen von der Anhörung rechtfertigen, seien nicht ersichtlich.
Kein Rückgriff auf Kindesanhörung in früheren Umgangsverfahren
Soweit das Amtsgericht auf die vor über sieben Monate durchgeführte Kindesanhörung im Umgangsverfahren zurückgriff, hielt das Oberlandesgericht dies angesichts der fehlenden Vergleichbarkeit der Verfahrensgegenstände und des inzwischen verstrichenen Zeitraums für unzulässig.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 07.04.2022
Quelle: Saarländisches Oberlandesgericht, ra-online (vt/rb)
Mai 2022
Oberlandesgericht Bamberg, Beschluss vom 01.04.2022
- 2 UF 11/22 -
Kein Anspruch auf vollständige Privatsphäre und Auskunft über Anwesenheitszeiten des anderen Ehegatten bei Trennung in Wohnung
Unzumutbare Einschränkung des Nutzungsrechts des anderen Ehegatten
Leben die Eheleute in der Ehewohnung getrennt, so besteht kein Anspruch auf vollständige Privatsphäre und Auskunft über die Anwesenheitszeiten des anderen Ehegatten. Ein solcher Anspruch würde das Nutzungsrecht des anderen Ehegatten unzumutbar einschränken. Dies hat das Oberlandesgericht Bamberg entschieden.
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Seit Ende September 2021 lebte ein Ehepaar innerhalb der in Bayern liegenden Ehewohnung getrennt. Bei der Ehewohnung handelte es ich um eine Immobilie mit 1.800 qm Grundstück mit einer Wohnfläche von ca. 200 qm. Da die Ehefrau das Zusammenleben mit ihrem Ehemann innerhalb eines Haues für unzumutbar hielt, beantragte sie im Dezember 2021 die Zuweisung der Wohnung zur alleinigen Nutzung. Sie beanspruchte eine umfassende Privatsphäre und wollte wissen, wann sich der Ehemann im gemeinsamen Haus aufhalten wird. Das Amtsgericht gab dem Antrag statt. Dagegen richtete sich die Beschwerde des Ehemanns.
Kein Anspruch auf Wohnungszuweisung
Das Oberlandesgericht Bamberg entschied zu Gunsten des Ehemanns. Die Ehefrau könne derzeit nicht die Wohnungszuweisung verlangen. Eine Wohnungszuweisung setze besondere Umstände voraus, die über bloße Unannehmlichkeiten oder Belästigungen, wie sie oft in der Auflösungsphase einer Ehe auftreten, hinausgehen und unter Berücksichtigung der Interessen des anderen Ehegatten dessen Verbleiben in der Wohnung für den Ehegatten zu einer unerträglichen Belastung machen. Solche Umstände habe die Ehefrau nicht dargelegt.
Kein Anspruch auf vollständige Privatsphäre und Kenntnis über Anwesenheitszeiten
Nach Auffassung des Oberlandesgerichts bestehe auch kein Anspruch auf umfassende Privatsphäre in der gesamten Ehewohnung und Kenntnis der Anwesenheitszeiten des Ehemanns während des Zusammenlebens in der Ehewohnung während der Trennungszeit. Dies würde dem Charakter als gemeinsam genutzte Ehewohnung widersprechen. Die fehlende vollständige Privatsphäre sei der gemeinsamen Nutzung immanent. Zudem würde es den Ehemann unzumutbar in seinem freien Nutzungsrecht einschränken, wenn er der Ehefrau seine exakten Ankunfts-, Abfahrts- und Anwesenheitszeiten mitteilen müsste.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 27.05.2022
Quelle: Oberlandesgericht Bamberg, ra-online (vt/rb)
Juni 2022
Amtsgericht Lübeck, Urteil vom 01.02.2022
- 33 C 1544/21 -
Familie mit vier Kleinkindern und eingeschränkten finanziellen Mitteln darf trotz Eigenbedarfskündigung in Wohnung verbleiben
Unmöglichkeit der Anmietung von Ersatzwohnraum begründet Härteeinwand
Ist es für eine Familie mit vier Kleinkindern, welche von ALG-II-Leistungen lebt, nicht möglich eine Ersatzwohnung anzumieten, so kann sie trotz zulässiger Eigenbedarfskündigung in der Wohnung verbleiben. Die Mieter können sich insofern erfolgreich auf den Härteeinwand gemäß § 574 Abs. 2 BGB berufen. Dies hat das Amtsgericht Lübeck entschieden.
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Februar 2021 erhielten die Mieter einer Wohnung in Lübeck von der neuen Eigentümerin eine Eigenbedarfskündigung. Sie gab an, sich von ihrem Ehemann getrennt zu haben und insofern auf die Wohnung angewiesen zu sein. Die Mieter machten einen Härteeinwand geltend. Sie waren Eltern von vier Kleinkindern und lebten von ALG-II-Leistungen. Trotz intensiver Bemühungen war es ihnen nicht möglich, eine Ersatzwohnung anzumieten. Die neue Eigentümerin ließ dies nicht gelten und erhob Räumungsklage.
Kein Anspruch auf Räumung und Herausgabe der Wohnung
Das Amtsgericht Lübeck entschied gegen die Klägerin. Ihr stehe kein Anspruch auf Räumung und Herausgabe der Wohnung zu. Zwar habe sie ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses gemäß § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB. Es liegen bei der Beklagten aber Härtegründe nach § 574 Abs. 1 BGB vor, die zu einer Fortsetzung des Mietverhältnisses führen.
Zulässiger Härteeinwand wegen Unmöglichkeit der Anmietung einer Ersatzwohnung
Nach Ansicht des Amtsgerichts liege der Härtegrund des § 574 Abs. 2 BGB vor. Denn die Beklagten haben eine angemessene Ersatzwohnung zu zumutbaren Bedingungen nicht beschaffen können. Es sei gerichtsbekannt, dass der Lübecker Wohnungsmarkt generell, vor allem aber in dem Segment der von den Beklagten monatlich aufbringbaren Mietzahlungen katastrophal ist. Hinzu komme, dass die Familie mit vier Kindern Wohnraum in einer Größe benötigt, in dem sie naturgemäß mit finanzkräftigeren Mieterin konkurrieren. Für die Klägerin sei es demgegenüber vergleichsweise einfacher, eine Wohnung für nur eine Person zu finden, vor allem weil sie nicht auf staatliche Hilfen angewiesen ist.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 14.06.2022
Quelle: Amtsgericht Lübeck, ra-online (zt/WuM 2022, 285/rb)
Juli 2022
Oberlandesgericht Bamberg, Beschluss vom 01.04.2022
- 2 UF 11/22 -
Kein Anspruch auf vollständige Privatsphäre und Auskunft über Anwesenheitszeiten des anderen Ehegatten bei Trennung in Wohnung
Unzumutbare Einschränkung des Nutzungsrechts des anderen Ehegatten
Leben die Eheleute in der Ehewohnung getrennt, so besteht kein Anspruch auf vollständige Privatsphäre und Auskunft über die Anwesenheitszeiten des anderen Ehegatten. Ein solcher Anspruch würde das Nutzungsrecht des anderen Ehegatten unzumutbar einschränken. Dies hat das Oberlandesgericht Bamberg entschieden.
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Seit Ende September 2021 lebte ein Ehepaar innerhalb der in Bayern liegenden Ehewohnung getrennt. Bei der Ehewohnung handelte es ich um eine Immobilie mit 1.800 qm Grundstück mit einer Wohnfläche von ca. 200 qm. Da die Ehefrau das Zusammenleben mit ihrem Ehemann innerhalb eines Haues für unzumutbar hielt, beantragte sie im Dezember 2021 die Zuweisung der Wohnung zur alleinigen Nutzung. Sie beanspruchte eine umfassende Privatsphäre und wollte wissen, wann sich der Ehemann im gemeinsamen Haus aufhalten wird. Das Amtsgericht gab dem Antrag statt. Dagegen richtete sich die Beschwerde des Ehemanns.
Kein Anspruch auf Wohnungszuweisung
Das Oberlandesgericht Bamberg entschied zu Gunsten des Ehemanns. Die Ehefrau könne derzeit nicht die Wohnungszuweisung verlangen. Eine Wohnungszuweisung setze besondere Umstände voraus, die über bloße Unannehmlichkeiten oder Belästigungen, wie sie oft in der Auflösungsphase einer Ehe auftreten, hinausgehen und unter Berücksichtigung der Interessen des anderen Ehegatten dessen Verbleiben in der Wohnung für den Ehegatten zu einer unerträglichen Belastung machen. Solche Umstände habe die Ehefrau nicht dargelegt.
Kein Anspruch auf vollständige Privatsphäre und Kenntnis über Anwesenheitszeiten
Nach Auffassung des Oberlandesgerichts bestehe auch kein Anspruch auf umfassende Privatsphäre in der gesamten Ehewohnung und Kenntnis der Anwesenheitszeiten des Ehemanns während des Zusammenlebens in der Ehewohnung während der Trennungszeit. Dies würde dem Charakter als gemeinsam genutzte Ehewohnung widersprechen. Die fehlende vollständige Privatsphäre sei der gemeinsamen Nutzung immanent. Zudem würde es den Ehemann unzumutbar in seinem freien Nutzungsrecht einschränken, wenn er der Ehefrau seine exakten Ankunfts-, Abfahrts- und Anwesenheitszeiten mitteilen müsste.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 27.05.2022
Quelle: Oberlandesgericht Bamberg, ra-online (vt/rb)
August 2022
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 01.08.2022
- 1 BvQ 50/22 -
BVerfG stoppt Herausgabe eines Achtjährigen an Vater
Rückführung nach Spanien gefährdet Kindeswohl
Das Bundesverfassungsgericht hat eine einstweilige Anordnung erlassen, mit der die Vollstreckung eines familiengerichtlichen Beschlusses, in dem festgestellt wird, dass die antragstellende Mutter verpflichtet ist, ihren im August 2013 geborenen Sohn an dessen in Spanien lebenden Vater herauszugeben, vorläufig ausgesetzt wird.
Die Antragstellerin ist die Mutter eines am 18. August 2013 in Madrid geborenen Sohnes, wo die nicht miteinander verheirateten Eltern gemeinsam lebten. Die Eltern trennten sich im März 2014. Ohne Zustimmung des Vaters reiste die Antragstellerin in demselben Monat über Portugal nach Deutschland aus. Der Vater leitete in Madrid ein Sorgerechtsverfahren ein. Im Juni 2015 wurde ihm durch ein spanisches Gericht die Personensorge sowie das Recht zur Bestimmung des Wohnorts für den Sohn aufgrund des unbekannten Aufenthalts der Antragstellerin übertragen. Ein bei einem Familiengericht in Deutschland 2016 gestellter Antrag des Vaters, seinen Sohn auf der Grundlage des Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) sofort nach Spanien zurückzuführen, blieb in beiden Instanzen erfolglos. Das Familiengericht und auf die Beschwerde des Vaters hin das Oberlandesgericht lehnten die Rückführung jeweils mit der Begründung ab, die Jahresfrist aus Art. 12 Abs. 1 HKÜ sei verstrichen und zudem habe sich das Kind zwischenzeitlich in seine neue Umgebung eingelebt (vgl. Art. 12 Abs. 2 HKÜ).
Spanisches Gericht ordnet Rückführung an
Später beantragte der Vater bei einem Gericht in Madrid, den Sohn nach Spanien zurückzuführen und ihn herauszugeben. Beides ordnete das angerufene Gericht in Madrid mit Beschluss vom 23. September 2021 an. Der Antragstellerin war die Gelegenheit eingeräumt worden, sich an dem Verfahren zu beteiligen. An dem Termin vor dem Gericht in Madrid am 8. September 2021 nahm sie trotz Ladung nicht teil. Soweit erkennbar, wurde das Kind vor dem spanischen Gericht nicht angehört und es wurde ihm auch kein Interessenvertreter bestellt. Dass das Kind den Vater praktisch nicht kennt und die Landessprache nicht beherrscht, findet sich in den Erwägungen des spanischen Gerichts nicht wieder. Das Gericht in Madrid stellte über die Entscheidung vom 23. September 2021 am 28. Februar 2022 eine Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 Brüssel IIa-VO aus. Die Antragstellerin hat gegenüber dem spanischen Gericht einen auf diese Bescheinigung bezogenen Berichtigungsantrag gestellt, mit dem sie insbesondere die fehlende Berücksichtigung der Interessen des Kindes geltend machte. Über diesen Antrag ist nach dem hier bekannten Stand bisher nicht entschieden worden. In dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zugrundeliegenden fachgerichtlichen Verfahren begehrt der Vater die Vollstreckung der auf Rückführung und Herausgabe des Sohnes lautenden Entscheidung des Madrider Gerichts. Zu diesem Zweck hat er dem Familiengericht eine Bescheinigung gemäß Art. 42 Brüssel IIa-VO vorgelegt. Mit Beschluss vom 21. März 2022 stellte das Familiengericht Bamberg fest, dass die Antragstellerin sei aufgrund des spanischen Titels verpflichtet, ihren Sohn an den Vater herauszugeben. Die Entscheidung des Madrider Gerichts sei in Deutschland unmittelbar vollstreckbar. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde der Antragstellerin wies das Oberlandesgericht zurück. Das Rechtsmittel sei nicht begründet. Vollstreckbar seien Entscheidungen über die Rückgabe eines Kindes nach Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO, für die gemäß Art. 40 Abs. 1b) Brüssel IIa-VO eine Bescheinigung des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaates nach Art. 42 Abs. 2 Brüssel IIa-VO vorliege. Das Familiengericht habe zutreffend ausgeführt, dass die Vollstreckung bei Vorliegen einer solchen Bescheinigung ohne weitere Prüfung seitens des Vollstreckungsgerichts durchzuführen sei. Alle Einwände gegen die Herausgabe des Kindes oder das spanische Erkenntnisverfahren seien vor spanischen Gerichten geltend zu machen.
BVerfG setzt Vollstreckung der Rückführung eines Kindes nach Spanien vorläufig aus
Der Antrag auf einstweilige Anordnung war erfolgreich. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall auch schon vor Anhängigkeit eines Verfahrens zur Hauptsache einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die der Antragsteller für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei einem offenen Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe. Eine Entscheidung im Sinne von Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO läge, wie das Vollstreckungsgericht zutreffend ausführt, nur dann vor, wenn sich die zuvor ergangene, die Rückführung ablehnende deutsche Entscheidung auf Art. 13 HKÜ gestützt hätte. Das Vollstreckungsgericht legt aber dar, dass hier das Oberlandesgericht die bestätigende Beschwerdeentscheidung vom 27. Juni 2016 über die Ablehnung einer Rückführungsentscheidung durch das Familiengericht vom 24. März 2016 allein auf Art. 12 Abs. 2 HKÜ gestützt habe. Das spanische Gericht konnte sich bei seiner Entscheidung über die sofortige Rückgabe des Kindes vom 23. September 2021 also nicht auf Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO stützen, weil das deutsche Gericht nicht nach Art. 13 HKÜ entschieden hatte. Mithin war nach Art. 40 Abs. 1 b) Brüssel IIa-VO eine Bescheinigung nach Art. 42 Brüssel IIa-VO nicht möglich. Das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats konnte also mangels Entscheidung nach Art. 13 HKÜ eine Bescheinigung nach Art. 42 Brüssel IIa-VO ungeachtet inhaltlicher Fragen schon deshalb in keinem Fall ausstellen, weil der Anwendungsbereich gar nicht erst eröffnet war. Liegt jedoch kein Fall des Art. 42 Brüssel IIa-VO vor, ist das deutsche Vollstreckungsgericht an und für sich nicht pauschal an einer inhaltlichen Prüfung gehindert. Kommt dieser nicht zur Anwendung, kann nach allgemeinen Regeln inhaltlich geprüft werden und es können Grundrechte zur Geltung gebracht werden. Das Familiengericht und das Oberlandesgericht nehmen aber offenbar an, dass dem Vollstreckungsgericht bei Vorlage einer Bescheinigung nach Art. 42 Brüssel IIa-VO nicht einmal die Prüfung möglich ist, ob der Anwendungsbereich für den Prüfungsausschluss nach Art. 40 Abs. 1 b) Brüssel IIa-VO überhaupt eröffnet ist oder dies schon mangels Entscheidung nach Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO nicht der Fall ist. Ob die Annahme eines so weitreichenden Prüfungsausschlusses zutrifft, ist auch im Lichte der Unionsgrundrechte zu überprüfen. Geprüft würde vielmehr allein, ob die Anwendbarkeit von Art. 42 Brüssel IIa-VO überhaupt gegeben ist. Gelangt vor diesem Hintergrund eine an den Grundrechten des Kindes (insbesondere Art. 24 GRCh) geleitete Auslegung zu dem Ergebnis, dass das Vollstreckungsgericht feststellen kann, dass Art. 42 Brüssel IIa-VO mangels Entscheidung nach Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO von vornherein unanwendbar ist, könnte hier möglicherweise berücksichtigt werden, inwieweit durch die Erzwingung der Herausgabe des Kindes Grundrechte beeinträchtigt werden. Dann ist nicht auszuschließen, dass die dies außer Acht lassenden Entscheidungen des Familiengerichts und des Oberlandesgerichts Grundrechte verletzen und eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde Erfolg hat.
Folgenabwägung zugunsten von Mutter und Kind
Angesichts des offenen Ausgangs einer noch zu erhebenden Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe. Danach war eine einstweilige Anordnung hier zunächst wegen der noch laufenden Frist zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zu erlassen. Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, würde das Kind an den Vater herausgegeben, der es sogleich nach Spanien mitnehmen dürfte. Das im Jahr 2013 geborene Kind hat seit 2014 in Deutschland gelebt, hat hier seine Mutter, die Familie seines Stiefvaters und Freunde, und es geht hier zur Schule. In Spanien wird sich das bald schon neunjährige Kind vorläufig kaum verständigen können, weil es kein Spanisch spricht. Auch mit seinem Vater, den es praktisch nicht kennt, wird es sich vorläufig kaum verständigen können. Der Vater spricht kein Deutsch. Das Kind muss also sein ihm seit vielen Jahren vertrautes Umfeld verlassen und allein in ein Land ziehen, dessen Sprache es nicht spricht und wo es keine ihm vertrauten Menschen erwarten. Bereits im Jahr 2016 hatten die deutschen Gerichte eine Rückführung abgelehnt, weil die Jahresfrist nach Art. 12 Abs. 2 HKÜ verstrichen sei und sich das Kind in Deutschland eingelebt habe. In der Folgezeit ist es zu keiner Intensivierung der Kontakte zum Vater gekommen. Es widerspreche dem Kindeswohl in eklatanter Weise, das Kind aus seinem gewohnten Umfeld zu reißen, von seiner bisherigen Hauptbezugsperson, der Mutter, zu trennen und es, ohne dass eine Kontaktanbahnung stattgefunden hätte, zu seinem Vater, einem ihm völlig fremden Mann, ins Ausland zu verbringen. Das spanische Gericht hat das Kind zu keinem Zeitpunkt angehört, hat also auch die Entscheidung vom 23. September 2021 über die Rückführung des Kindes nach Spanien getroffen, ohne das Kind jemals gesehen oder gesprochen zu haben. Daher erscheint zweifelhaft, dass es die Belastung des Kindes angemessen erfassen konnte. Wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe, würde das Kind möglicherweise bis zum Abschluss eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens weiterhin nicht zu seinem Vater nach Spanien zurückgeführt, von wo es vor über acht Jahren durch die Antragstellerin nach Deutschland verbracht wurde. Das dem Vater widerfahrene Unrecht vertiefte sich in dem Maße, in dem sich die Rückführung verzögerte. Die Nachteile des Kindes hielten sich hingegen in Grenzen, gerade weil es sich seit vielen Jahren in Deutschland eingelebt hat und die Rückführung nach Spanien eine erhebliche Belastung darstellte. Stellt man die Nachteile einander gegenüber, überwiegen die Nachteile, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte. Dies folgt vor allem aus der nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls, die bei einer gegebenenfalls lediglich zeitweiligen Rückführung des Sohnes der Antragstellerin nach Spanien drohte.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 08.08.2022
Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)
September 2022
Oberlandesgericht Braunschweig, Beschluss vom 20.07.2022
- 1 WF 165/21 -
Aus Umgangstitel verpflichtetes Elternteil muss bei Bedenken gegen Umgang Änderung des Umgangstitels erreichen
Eigenmächtige Verweigerung des Umgangs unzulässig
Der aus einen Umgangstitel verpflichtete Elternteil muss bei Bedenken gegen den Umgang die Abänderung des Umgangstitels erreichen. Es ist unzulässig, eigenmächtig den Umgang zu verweigern. Dies geht aus einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Braunschweig hervor.
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Mai 2018 kam es vor dem Amtsgericht Helmstedt zu einer gerichtlich gebilligten Umgangsvereinbarung zwischen den getrennt lebenden Eltern einer 4-jährigen Tochter. Ab November 2019 verweigerte die Kindesmutter jeglichen Umgang des Kindesvaters mit dem Kind. Zudem erstatte sie Strafanzeige wegen Kindesmissbrauchs durch den Kindesvater. Das Ermittlungsverfahren wurde im Juni 2020 wegen fehlenden Tatverdachts eingestellt. Nachfolgend verweigerte die Kindesmutter weiterhin jeglichen Umgang des Kindesvater mit dem Kind, so dass dieser schließlich die Anordnung von Sanktionen gegen die Kindesmutter beantragte. Das Amtsgericht Helmstedt wies den Antrag zurück. Dagegen richtete sich die Beschwerde des Kindesvaters.
Verstoß gegen Umgangsvereinbarung durch Kindesmutter
Das Oberlandesgericht Braunschweig entschied zugunsten des Kindesvaters. Gegen die Kindesmutter sei ein Ordnungsgeld zu verhängen, da diese gegen die Umgangsvereinbarung schuldhaft verstoßen habe. Sie habe die Wiederaufnahme der vereinbarten Umgangskontakte verweigert. Soweit die Kindesmutter auf eine Kindeswohlwidrigkeit der Durchführung der titulierten Umgangskontakte beruft, könne sie sich damit nicht entlasten. Die Kindesmutter habe nicht eigenmächtig den Umgang aussetzen dürfen, sondern habe einen Antrag auf Abänderung der titulierten Umgangsregelung stellen müssen. Dazu habe ausreichend Gelegenheit bestanden.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 02.09.2022
Quelle: Oberlandesgericht Braunschweig, ra-online (vt/tb)
Oktober 2022
Oberlandesgericht Celle, Beschluss vom 10.08.2022
- 21 WF 87/22 -
Anspruch auf Mitbenutzung der Ehewohnung während intakter Ehe
Unbillige Härte nicht Voraussetzung für Antrag auf Mitbenutzung
Während einer intakten Ehe hat jeder Ehegatte einen auf § 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB gestützten Anspruch auf Mitbenutzung der Ehewohnung. Das Vorliegen einer unbilligen Härte im Sinne von § 1361 b Abs. 1 BGB ist keine Voraussetzung. Dies hat das Oberlandesgericht Celle entschieden.
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Im Jahr 2022 beantragte ein Ehemann beim Amtsgericht Cuxhaven Verfahrenskostenhilfe für einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Er wurde von seiner Ehefrau aus der Ehewohnung herausgeworfen und hat seitdem keinen Zutritt mehr zur Wohnung und somit zu seinen persönlichen Sachen. Zudem musste er in eine Notunterkunft ziehen. Das Amtsgericht wies den Verfahrenskostenhilfeantrag mit der Begründung zurück, dass eine Wohnungszuweisung nur in Betracht komme, um eine unbillige Härte zu vermeiden, die vorliegend nicht dargetan worden sei. Gegen diese Entscheidung richtete sich die Beschwerde des Ehemanns.
Das Oberlandesgericht Celle entschied zu Gunsten des Ehemanns. Seinem Anspruch auf Wiedereinräumung des Mitbesitzes an der Ehewohnung könnten nicht von vornherein hinreichende Erfolgsaussichten abgesprochen werden, so dass ihm Verfahrenskostenhilfe zu gewähren sei. Ein Anspruch auf Mitbenutzung und Mitbesitz der Ehewohnung folge aus § 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB und der dort geregelten Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft. Leben die Ehegatten in einer Ehewohnung, so stehe ihnen der Mitbesitz an der Ehewohnung unabhängig davon zu, ob sie die Wohnung gemeinsam gemietet haben oder nur ein Ehegatte Partei des Mietvertrags ist. Das bloße Verlassen der Ehewohnung führe nicht zum Erlöschen des Mitbesitzes.
Das Recht auf Mitbesitz entfalle, so das Oberlandesgericht, wenn die Ehegatten anlässlich ihrer Trennung eine abweichende Vereinbarung über die künftige Nutzung der Ehewohnung getroffen haben oder ein Ehegatte aus der Ehewohnung mit dem Willen ausgezogen ist, die eheliche Lebensgemeinschaft nicht wiederherstellen zu wollen. An beiden fehle es hier.
Der Anspruch auf Wiedereinräumung des Mitbesitzes könne nach Ansicht des Oberlandesgerichts im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes geltend gemacht werden.
© kostenlose-urteile.de (ra-online
GmbH), Berlin 05.10.2022
Quelle: Oberlandesgericht Celle, ra-online (vt/rb)
November 2022
Bundesgerichtshof, Urteil vom 12.01.2005
- XII ZR 60/03 und XII ZR 227/03 -
Anfechtung der Vaterschaft kann nicht auf heimlich eingeholten DNA-Vaterschaftstest gestützt werden
Der u.a. für das Familienrecht zuständige XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte in zwei Fällen darüber zu entscheiden, ob eine ohne Zustimmung des Kindes bzw. seiner allein sorgeberechtigten Mutter eingeholte sogenannte DNA-Vaterschaftsanalyse im Rahmen einer Vaterschaftsanfechtungsklage verwertet werden kann.
In beiden Fällen hatten die mit der jeweiligen Mutter des Kindes nicht verheirateten Kläger ihre Vaterschaft vor dem Jugendamt anerkannt. Jahre später ließen sie im einen Fall eine Haarprobe und im anderen Fall ein ausgespucktes Kaugummi sowie jeweils eigene Speichelproben ohne Wissen und Zustimmung des Kindes und der Mutter von einem privaten Labor genetisch analysieren. Die Analyse ergab jeweils, daß der Spender der Speichelprobe nicht der biologische Vater des Kindes sein konnte, von dem die Gegenprobe angeblich stammte.
Die darauf gestützten Vaterschaftsanfechtungsklagen waren von den Vorinstanzen (OLG Celle und OLG Jena) abgewiesen worden. Diese Entscheidungen hat der Bundesgerichtshof heute bestätigt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Senats reicht die bloße Behauptung, nicht der Vater des Kindes zu sein, nicht aus, ein Vaterschaftsanfechtungsverfahren einzuleiten, in dem die Abstammung dann regelmäßig durch ein gerichtliches Gutachten geklärt wird. Vielmehr muß der Kläger konkrete Umstände vortragen, die bei objektiver Betrachtung geeignet sind, Zweifel an seiner Vaterschaft zu wecken und die Abstammung des Kindes von einem anderen Mann als nicht ganz fernliegend erscheinen zu lassen.
Auf eine "heimliche" DNA-Vaterschaftsanalyse kann ein solcher Anfangsverdacht aus Rechtsgründen nicht gestützt werden.
Unabhängig vom Ausgang des aktuellen Gesetzgebungsvorhabens, mit dem ein generelles Verbot solcher heimlichen DNA-Analysen erwogen wird, hat der Senat entschieden, daß die Untersuchung des genetischen Materials eines anderen Menschen ohne dessen ausdrückliche Zustimmung gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verstößt und rechtswidrig ist. Dieses Grundrecht des Kindes braucht auch nicht hinter dem Interesse des als Vater geltenden Mannes zurückzustehen, sich Gewißheit über seine biologische Vaterschaft zu verschaffen. Deshalb darf das Ergebnis einer solchen Untersuchung in einem Zivilprozeß nicht verwertet werden, auch nicht als Grundlage eines Anfangsverdachts.
Auch die Weigerung des Kindes oder der Mutter als seiner gesetzlichen Vertreterin, der Einholung einer solchen Analyse oder der Verwertung ihres Ergebnisses zuzustimmen, ist als solche regelmäßig nicht geeignet, einen Anfangsverdacht zu begründen.
Aktenzeichen der Urteile: XII ZR 60/03, XII ZR 227/03
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 13.01.2005
Quelle: Pressemitteilung Nr. 4/2005 des Bundesgerichtshofs vom 12.01.2005
Dezember 2022
Oberverwaltungsgericht Sachsen, Beschluss vom 03.12.2022
- 6 B 303/22 -
Aus Wohnung verwiesener Ehemann hat Anspruch auf Abholung persönlicher Gegenstände
Unzulässiger Verweis auf Möglichkeit der Abholung durch Dritte
Wird ein Ehemann wegen Gewalttaten aus der Ehewohnung verwiesen, so hat er einen Anspruch auf Abholung seiner persönlichen Gegenstände. Der Verweis auf die Möglichkeit der Abholung durch Dritte ist unzulässig. Dies hat das Oberverwaltungsgericht Sachsen entschieden.
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Ehemann wurde im Jahr 2022 aus der in Leipzig liegenden Ehewohnung verwiesen, da er sich gewalttätig gegenüber seiner Ehefrau gezeigt hatte. Nachfolgend wollte der Ehemann seine persönlichen Gegenstände aus der Wohnung holen, was ihm polizeilich untersagt wurde. Er wurde auf die Möglichkeit einer Abholung der Gegenstände durch Dritte verwiesen. Der Ehemann war damit nicht einverstanden und ging daher gerichtlich gegen das Verbot vor. Das Verwaltungsgericht Leipzig entschied gegen ihn. Nunmehr hatte das Oberverwaltungsgericht Sachsen eine Entscheidung zu treffen.
Anspruch auf Abholung der persönlichen Gegenstände
Das Oberverwaltungsgericht Sachsen entschied zu Gunsten des Ehemanns. Die Polizei habe unverzüglich sicherzustellen, dass dem Ehemann auf seine Bitte hin unverzüglich die Abholung in der Ehewohnung befindlicher persönlicher Gegenstände dadurch ermöglicht werde, dass die Polizei die Ehefrau von der Abholung vorher in Kenntnis setzt und ihm durch die Begleitung von Polizeibeamten die Abholung ermöglicht werde.
Unzulässiger Verweis auf Abholung durch Dritte
Der Verweis auf eine Abholung durch Dritte sei rechtswidrig, so das Oberverwaltungsgericht. Der Ehemann habe Anspruch auf persönliche Abholung der Gegenstände. Eine Abholung durch Dritte gewährleiste nicht in gleicher Weise, dass der Ehemann selbst die nötigen Gegenstände aufsuchen und mitnehmen kann.
© kostenlose-urteile.de (ra-online GmbH), Berlin 02.02.2023
Quelle: Oberverwaltungsgericht Sachsen, ra-online (vt/rb)